Tradierte eurozentrische Arroganz
Als im vergangenen Oktober mit Abdulrazak Gurnah der Träger des Nobelpreises für Literatur verkündet wurde, ging ein beträchtliches Raunen durch die Medien. Kaum einer kannte den 1948 geborenen Sansibari, der seit Jahrzehnten in Großbritannien lebt, lehrt und schreibt. Die Folge war – Hektik. In ihr wurde (wieder einmal) schlaglichtartig beleuchtet, wie es um die Rezeption afrikanischer Literatur in Deutschland bestellt ist. Mit der hektischen Jagd nach Informationen zum Preisträger ging eine ebenso eigentümliche wie wenig neue Verdrängung einher, die sich zu erklecklichen Teilen aus tradierter eurozentrischer Arroganz speist. Schnell nämlich war man mit der Erklärung zur Hand (FAZ und andere), da man den Autor nicht kenne, könne es sich nur um eine politisch hinterlegte Entscheidung handeln, denn die preiswürdigen kenne man schließlich alle. Ein leicht durchschaubarer Versuch, die eigene Unwissenheit zu kaschieren. Dabei ist Unwissenheit nichts Schlimmes, weil man etwas dagegen unternehmen kann. Und sie zuzugeben ehrt eher, als suchte man die eigene Winzigkeit durch das Postulat der Überlegenheit zu verbergen. Doch da war er wieder, der unselige Geist des literarischen Quartettspielers: „Den Nobelpreis sollte wohl erst Updike bekommen und dann Philip Roth, aber es werden beide ihn nicht bekommen, denn es wird sich ja sicher noch irgendjemand aus dem Sudan finden. Dass die nicht schreiben können, spielt gar keine Rolle. Eben weil sie nicht schreiben können im Kongo, muss man denen den Nobelpreis geben.“ (Marcel Reich-Ranicki, Das Literarische Quartett, 5.3.1992). Von da führt eine direkte Spur zurück ins 18. und 19. Jahrhundert zu Kant und Hegel: „Die Negers von Afrika haben von der Natur her kein Gefühl, welches über das Läppische stiege“, heißt es zum Beispiel 1764 beim alten Königsberger (Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 253), und Hegels Verdikt, dass Afrika der Kontinent der Finsternis sei, soll hier nicht zum x-ten Male wiederholt werden – es führt sich von selbst ad absurdum.
Andere, wie die LVZ, verhielten sich weit cleverer. Sie taten gar nicht erst so, als interessiere sie der preisgekrönte Autor, und beließen es beim Abdruck der dpa-Meldung. Was auch auf die Berichterstattung zum Prix Goncourt und zum Booker Prize zutrifft, die neben dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels für Tsitsi Dangaremgba aus Simbabwe ebenfalls an afrikanische Autoren verliehen wurden: Der in Frankreich lebende Mohamed Mbougar Sarr erhielt den Prix Goncourt, der Booker Prize ging an Damon Galgut aus Südafrika, der International Booker Prize an den Franzosen David Diop, der wie Sarr senegalesische Wurzeln hat.
Ein „afrikanisches“ Jahr in der Bücherwelt des Westens. Legt diese Häufung wirklich den Schluss nahe, dass extraliterarische Gründe – politische oder dem Zeitgeist geschuldete - dabei eine Rolle spielten? Oder verhält es sich so, dass aus afrikanischen Literaturen jüngst so viel Herausragendes erschienen ist und man im Westen schlichtweg nicht mehr daran vorbeikonnte? Das seit Jahren Offensichtliche wahrnehmen musste, die Bereicherung erkennen, die uns im Westen durch diese Kunst zuwächst?
Die Wahrnehmung dieser Literaturen im frankophonen wie im anglophonen Raum ist – unter anderem historisch und sprachlich bedingt - natürlich weit größer und fortgeschrittener als im vergleichsweise engen deutschsprachigen Raum. Warum diese räumliche Begrenztheit geistige Enge wie in den angerissenen Beispielen zur Folge hat, ist jedoch nicht nachzuvollziehen. Zugegeben, die Notwendigkeit der Übersetzung bedingt einigen zeitlichen Verzug. Zweitens sind es vor allem kleine und unabhängige Verlage, die mit viel Engagement, Können, Weitblick und Beharrlichkeit den Blick der Öffentlichkeit auf die afrikanischen Literaturen gelenkt haben und lenken. Das bringt aufgrund fehlender Werbemittel und Vertriebsstrukturen aber auch mit sich, dass die von ihnen vertretenen Schriftsteller meist „unter dem Radar der medialen Aufmerksamkeit fliegen“ und sich „am Markt“ nur schwer durchsetzen können.
So verhielt es sich auch mit Abdulrazak Gurnah, von dem bis in die frühen 2000er Jahre immerhin fünf Romane in deutscher Übersetzung erschienen waren. Danach leider nichts mehr, weil die Bücher sämtlich kein größeres Publikum erreichen konnten. Zum Zeitpunkt der Vergabe des Nobelpreises an Gurnah waren diese Bücher nicht mehr lieferbar und auch Übersetzungen neuerer Werke nicht erhältlich, weil kein Verlag das unternehmerische Risiko eingehen mochte oder konnte. Das bedeutet, dass die unabhängigen Verlage am Autor nicht festhalten, ihn nur selten „pflegen“ können. Trotz einer relativ beständigen “Lesergemeinde“ haben es diese Verlage selbst mit „großen“ Autoren aus dem subsaharischen Afrika schwer, relevante Verkaufszahlen zu erreichen. Gurnahs „Schicksal“ ist kein Einzelfall. „Herr der Krähen“, der große und großartige Roman des Kenianers Ngũgï wa Thiong’o – ebenfalls seit Jahren ein Anwärter auf den Nobelpreis für Literatur, eine gleichermaßen höchst nachdenkliche wie satirisch-unterhaltsame Abrechnung mit den Fehlentwicklungen seit der Unabhängigkeit, erreichte trotz akzeptabler Medienpräsenz im Hardcover mit mehreren Auflagen kaum Verkaufszahlen jenseits der 10 000. Zum Vergleich: Ein in Feuchtgebieten ansässiges literarisches Leichtgewicht bringt hierzulande locker das achtfache an Startauflage. Die Tagesware geht immer glatt über den Tresen, Bleibendes muss sich erst einmal durchsetzen. Die Liste der Unterschätzten ließe sich unschwer um anderswo hochdekorierte Autoren verlängern: Helon Habila oder Teju Cole aus Nigeria, Ivan Vladislavić aus Südafrika (ein weiterer Anwärter auf den Nobelpreis), Véronique Tadjo aus der Elfenbeinküste … Genuss bedeutet auch Anstrengung, ein Sichbemühen.
Neben diesen Autoren drängt international seit einigen Jahren eine jüngere bis junge Generation nach vorne, mit außergewöhnlichen Themen und interessanter literarischer Gestaltung. Die noch vor einem reichlichen Jahrzehnt zu beobachtende literarische Flaute im subsaharischen Afrika ist ganz offensichtlich vorüber. Hier sind das traditionell literarisch starke Südafrika und das wiedererstarkte Nigeria hervorzuheben. Ein Teil dieser Autoren kommt aus den einschlägigen Schreibschulen, in denen man lernt, eine Geschichte gut von A bis Z durchzuerzählen, ohne den potentiellen Leser anzustrengen. An dieser Stelle sei das Selbstvermarktungsgenie Chimamanda Adichie stellvertretend für viele genannt, das dann auch für größere Verlage interessant ist. Die geistige Verflachung ist ja nicht auf Afrika beschränkt. Es wiederholt sich: Die anspruchsvolleren Autoren landen bei den kleineren Verlagen: Elnathan John, Abubakr Ibrahim und Yewande Omotoso aus Nigeria, Wayétu Moore aus Liberia, Yaa Gyasi aus Ghana, Jennifer Makumbi aus Uganda; ihre Namen stehen für eine Vielzahl weiterer - man darf sich getrost auf Entdeckungsreise begeben.
Seit der Bekanntgabe des Nobelpreises hat der in München beheimatete Penguin Verlag die deutschsprachigen Rechte für Abdulrazak Gurnahs Werke übernommen. Beginnend mit den älteren Romanen des Autors soll eine Werkschau des Nobelpreisträgers bewerkstelligt werden. Kurz vor Weihnachten erschien „Das verlorene Paradies“ (1994), mit „Ferne Gestade“ (2001) soll im Februar ein weiterer Roman folgen.
Abdulrazak Gurnahs Romane kennen als zentrales Thema den Umbruch, die Reise ins Unbekannte und Ungewisse bar aller Sicherheiten, das Weggehen und Ankommen die Entwurzelung, das Sichverlieren und –finden. Er ist ein stiller Autor, dem alles Schrille fremd ist. In genauer, poetischer Sprache, die sich aus dem Innenleben seiner Figuren speist, über das sich ein Abbild der Außenwelt ergibt. Sie sind sowohl historische als auch Entwicklungs-/Bildungsromane in einem erweiterten Sinne, gestellt in eine Zeit weltweiten Wandels. Dabei spielt Abdulrazak Gurnah oft mit interliterarischen, mit (aus europäischer Sicht) weltliterarischen Bezügen. „Das verlorene Paradies“ lässt sich als Gegenentwurf zu Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ (1902) und zugleich als Umdeutung von verschiedenen Geschichten (Suren) aus dem Qur’an lesen, in „Ferne Gestade“ ist es unter anderem die wiederholte Anspielung auf Herman Melvilles Erzählung „Bartleby der Schreiber“ (1853). „Gravelheart“ (2017), einer seiner jüngeren Romane, bedient sich virtuos bei Shakespeares „Problemstück“ „Maß für Maß“ (1603). Stets aber erfolgt das in einer Art, die nichts ausstellen will, sondern die Ambivalenz von Kultur und Zivilisation nachempfindbar macht, ihre Doppelgründigkeit bis hin zur Verlogenheit einer vorgeblichen kulturellen Überlegenheit. In der Vielschichtigkeit der Romanfiguren Abdulrazak Gurnahs begegnen sich die je unterschiedlichen Gefüge von Macht, Ausgrenzung und Identität der kulturellen Welten, werden die wechselseitigen Einflüsse auf Vergangenes offenbar, und wie sie ins Gegenwärtige nachwirken.
https://www.zeit.de/news/2021-10/07/uebersetzer-von-nobelpreistraeger-gurnah-hintersinniger-humor
https://www.zdf.de/kultur/kulturzeit/gespraech-mit-thomas-brueckner-102.html
https://nachrichtend.com/der-literaturnobelpreis-wird-2021-an-abdulrazak-gurnah-verliehen/
https://www.diepresse.com/6044407/gurnah-ist-ein-fleissiger-arbeiter-im-garten-der-sprache
https://www.dw.com/de/portr%C3%A4t-abdulrazak-gurnah-literaturnobelpreistr%C3%A4ger/a-59437333
https://m.facebook.com/286662429113/photos/a.10152147842774114/10159974023394114/?type=3&source=48