(c) O. Hofmann

 

 

 

Deutschland. Ein Wintermärchen

 

Ade, Paris, du teure Stadt,

Wir müssen heute scheiden,

Ich lasse dich im Überfluss

Von Wonnen und von Freuden.

 

Das deutsche Herz in meiner Brust

Ist plötzlich krank geworden,

Der einz’ge Arzt, der’s heilen kann,

Der wohnt daheim im Norden.

 

Er wird es heilen in kurzer Frist,

man rühmt seine großen Kuren;

doch ich gesteh’, mich schaudert schon

vor seinen derben Mixturen.

 

Ade, du heitres Franzosenvolk,

Ihr meine lust’gen Brüder,

Gar närrisch Sehnsucht treibt mich fort,

Doch komm ich in kurzem wieder.

 

Denkt euch, mit Schmerzen sehn’ ich mich

Nach Torfgeruch, nach den lieben

Heidschnucken der Lüneburger Heid’,

Nach Sauerkraut und Rüben.

 

Ich sehne mich nach Tabaksqualm

Hofräten und Nachtwächtern,

Nach Plattdeutsch, Schwarzbrot, Grobheit sogar,

Nach blonden Predigerstöchtern.

 

Auch nach der Mutter sehne ich mich,

Ich will es offen gestehen,

Seit dreizehn Jahren hab ich nicht

Die alte Frau gesehen.

 

Ade, mein Weib, mein schönes Weib,

Du kannst meine Qual nicht fassen,

Ich drücke dich so fest an mein Herz,

Und muss dich doch verlassen.

 

Die lechzende Qual, sie treibt mich fort

Von meinem süßesten Glücke –

Muss wieder atmen deutsche Luft,

Damit ich nicht ersticke.

 

Die Qual, die Angst, der Ungestüm,

Das steigert sich bis zum Krampfe.

Es zittert mein Fuß vor Ungeduld,

Dass er deutschen Boden stampfe.

 

Vor Ende des Jahres bin ich zurück

Aus Deutschland, und ich denke

Auch ganz genesen, ich kaufe dir dann

Die schönsten Neujahrsgeschenke.

 

Im Herbst – genauer: im Oktober - 1843 reist Heinrich Heine von Paris über Brüssel, Amsterdam und Bremen nach Hamburg. Nach dreizehn Jahren im nicht ganz freiwilligen, weil auch politisch bedingten, Exil in Paris will er die Mutter besuchen und – was ihm noch wichtiger ist – mit seinem Verleger Julius Campe verhandeln. Sein Elfjahresvertrag läuft bald aus; Heinrich Heine will – auch angesichts seines angegriffenen Gesundheitszustandes – sein künftiges Auskommen sichern und das seiner Frau Mathilde. „Im Keller von Lorenz“, beim „Schlampampen“ (Caput XXIII), vereinbart Heine mit Campe, dass letzterer auch weiterhin seine Werke verlegen darf, die bereits vorliegenden wie die künftig entstehenden. Dafür zahlt Campe ihm eine lebenslange Rente, die im Falle seines Todes an Mathilde übergehen soll.

Anfang Dezember verlässt er Hamburg wieder und reist über Celle, Hannover, Minden, Bückeburg, Münster, Hagen, Köln und Brüssel nach Paris zurück, das er am 16. Dezember 1843 erreicht.

          Unsere „Reise“ mit Heinrich Heine beginnt zwar nicht im „traurigen Monat November“ (Caput I) , sondern mitten im Sommer, als die Temperaturen bis nahe an die vierzig Grad gestiegen waren und wir uns zu ersten „Fingerübungen“ trafen, doch hat, was sie ausgelöst hat, durchaus mit Heinrich Heine zu tun: es war ein „Schlampampen“ an jenem ersten Weihnachtstag vor diesem Sommer, im Glase brach sich das Licht der Kerzen und ließ den Elbwein funkeln, der nicht schlechter ist als der rheinische; die Thüringer Klöße dampften – hier irrt Heine, wenn er in seinem Gedicht „Zur Beruhigung“ meint: „in Schwaben kocht man die besten Klöße“, doch wer sind wir, dass wir den Schwaben ihre „Größe“ streitig machen wollten – und „es stand auf dem Tische eine Gans, ein stilles gemütliches Wesen“ (Caput IX), mit Rotkraut und Beifuss und allem, was dazugehört. Ob sie uns „vielleicht … geliebt“ (ebd.), werden wir nie erfahren – früh hatte sie ihren Erdenlauf vollendet; jedenfalls schmeckte sie köstlich. „In die Nase steigt ein Prickeln so süß, man kann sich vor Wonne nicht lassen“ (Caput IV), das kam vom Weine, und als wir so schwelgten, war sie plötzlich da, die Idee – das „Wintermärchen“ zu „vertonen“.

          Heinrich Heine beginnt, kaum wieder in Paris angekommen, zu schreiben. Bereits am 20. Februar 1844 verkündet er Campe in einem Brief: „Hab, seitdem ich zurück, viel gearbeitet, z. B. ein höchst humoristisches Reiseepos, meine Fahrt nach Deutschland, ein Zyklus von zwanzig Gedichten, gereimt …“ Sein Augenleiden verhindert vorerst die Fertigstellung, doch am 17. April 1844 schreibt er Julius Campe: „Es ist ein gereimtes Gedicht … Sie wissen, ich prahle nicht, aber ich bin diesmal sicher, dass ich ein Werkchen gegeben habe, das mehr Furore machen wird als die populärste Broschüre und das dennoch den bleibenden Wert einer klassischen Dichtung haben wird.“

          Ende September 1844 lieferten Hoffman und Campe das „Wintermärchen“ als Teil der „Neuen Gedichte“ aus, im Oktober folgte bereits die zweite Auflage. So umgeht man – vorerst – die Zensur, die erst beim Separatdruck des „Wintermärchens“ eingreift und einige Passagen streicht.

Das ist nun runde 180 Jahre her, und wiewohl Heinrich Heine mit seiner Einschätzung, den klassischen Wert seines Werkes betreffend, Recht behalten sollte, zur „populärsten Broschüre“ ist sein Reiseepos nicht geworden. Dazu war der Autor, dieser „vaterlandslose Geselle“, der „entlaufene Romantiker“ (Heine über Heine), dem deutschen Spießbürgertum denn doch zu suspekt, weil zu frech, zu frei – „des freien Rheines noch weit freierer Sohn“ nennt er sich im Vorwort zum „Wintermärchen“ – zu aufmüpfig. Später verbrannten die Nazis seine Bücher, und wie unwohl man sich heute immer noch mit diesem Text fühlt, mag sich vielleicht auch daran verdeutlichen, dass das „Wintermärchen“ in deutschen Schulen aus dem Lehrplan verschwunden ist.

Für uns folgte eine längere Zeit der Auseinandersetzung mit Heine und seinem Wintermärchen: es war uns bewusst, dass wir – sehr zu unserem Bedauern – nicht den ganzen Text auf die Bühne bringen können würden, dass wir – behutsam und vorsichtig - kürzen mussten, wollten wir Musik und Text in aufführungspraktikabler Länge zusammenführen. Was wir nicht ahnten, nicht ahnen konnten, war, dass Heines großartiger Text trotz der Bemühungen von Eberhard Esche, Lutz Görner, Gert Westphal und anderen bereits völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein zumindest der jüngeren Generation verschwunden ist: Fragte die Leiterin des Kulturamtes einer (west)-deutschen Kleinstadt: „Dieser Heine, mit dem Sie bei uns auftreten wollen – wer ist das; das müssen Sie mir jetzt mal erklären – ist der so gut wie Mario Barth?“ Was wir „natürlich“ nicht bestätigen konnten, weil wir nun unsererseits nicht wussten, von wem sie sprach. Die Möglichkeit eines öffentlichen Vortrags in diesem Ort hatte sich damit erledigt. Es geht aber immer noch schlimmer: Einige Zeitlast später, vor einem Vortrag in Kühlungsborn, wurden wir mehrmals am Tage über den Strandfunk mit folgenden Worten angekündigt: "Heute Abend in der Kunsthalle: Das Baby Sommer/Uwe Kropinski-Quartett spielt Jazz und Heinrich Heine liest seine neuen Gedichte!" Die "Ver-Barth-ung" trägt Früchte!

          Dabei kennt die neuere deutsche Literatur nur drei große Versepen. Heines als Satire daherkommendes „Wintermärchen“ ist eins davon; die beiden anderen, „Hermann und Dorothea“ und „Reineke Fuchs“ stammen aus Goethes Feder.

          Und: Heines Text ist von ungebrochener Aktualität.

Ein Beispiel nur: Die Hülfsgelderkasse wurde geführt / von wahren Christen und Frommen - / Erfahren hat nie die linke Hand, / wie viel die Rechte genommen – heißt es in einer Strophe in Caput XXI, die damals der Zensur zum Opfer fiel – wer dächte nicht gleich an den Spendenskandal der CDU vor einigen Jahren mit anschließender „brutalstmöglicher Aufklärung“, an Leerverkäufe, Bankenkrise, Korruption und Vorteilsnahme, zügellose Gier und dergleichen, den ganzen „deutschen Zukunftsduft“ (Caput XXVI), den Heine freilich nur poetisch erahnen konnte.

Dieser - und anderen - Aktualitäten wollten wir nachspüren, den Text aber gleichzeitig in seinem historischen Kontext belassen. Es ging und geht uns nicht um ein „Nummerprogramm“, in dem Text und Musik – wie oftmals bei den „altehrwürdigen“ Lyrik-Jazz-Programmen erlebt – nebeneinander existieren, sondern um die Verflechtung beider; die Musik soll den Text hinterfragen, kommentieren, kontern usw., und dadurch wiederum dem Text die Möglichkeit eröffnen, seinerseits der Musik entgegenzutreten, ihre Fragen zu beantworten – oder auch nicht – in der Musik zu schweben ... und umgekehrt. Die Musik liefert also eine zweite Dimension, die dem Text nicht nur ein Fahrwasser für seine Richtungen gibt, sondern auch seine emotionalen Wirkungen zu steigern vermag. Sprache und Musik wirken auf wunderbar gleichberechtigte Weise zusammen …

Heine sah voraus, was seinem Text widerfahren würde: „das Zeter der Pharisäer der Nationalität“. Doch steht uns des ungeachtet sein „Wintermärchen“ bis heute als Mahnung, als Erinnerung daran, dass es seine poetische Ahnung zu widerlegen gilt.

 

 

 

Thomas Brückner, Michael Winkler, Uwe Kropinski, Günter Baby Sommer